Ihre Identität sollte zerstört werden (2024)

Ihre Identität sollte zerstört werden

Bad Sachsas Stadtarchivar Ralph Boehm vor einem Gebäude des ehemaligen Kinderheims "Bremen" in Borntal

© epd-bild/Hubert Jelinek

Vor 80 Jahren wurden die Kinder der Hitler-Attentäter verschleppt

Bad Sachsa, Königswinter (epd).

Wenige Menschen sind heute noch mit dem 20. Juli 1944 so eng verbunden wie Rainer Goerdeler. Der 83-Jährige ist der Enkel des Widerstandskämpfers Carl Friedrich Goerdeler (1884-1945), der am Putschversuch gegen Adolf Hitler beteiligt war. Gemeinsam mit seinem Bruder Carl und mehr als 40 Kindern der NS-Widerstandskämpfer vom 20. Juli wurde er nach dem Attentat verschleppt und in einem Heim in Bad Sachsa am Harz interniert.

Er wolle weiter die Erinnerung an seinen Großvater wachhalten, sagt Goerdeler im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Die politische Entwicklung in Deutschland erfüllt mich mit Sorge, vor allem wenn Personen wie Björn Höcke die alten Slogans aus der NS-Zeit wiederverwenden.“ Als Ministerialbeamter war Goerdeler in Bonn im Auswärtigen Dienst und in der Entwicklungsarbeit tätig. Er lebt in Königswinter.

Carl Friedrich Goerdeler war seit 1930 Oberbürgermeister von Leipzig. Wegen heftiger Auseinandersetzungen mit der NSDAP trat er 1937 zurück. Danach war er als Berater der Robert-Bosch-GmbH tätig. Auf seinen Reisen warb er für seine politischen Ziele und wurde zum Mittelpunkt der zivilen Widerstandskreise. Seinen Bruder Fritz bezog er in seine Pläne ein, wonach er nach dem Umsturz das Amt des Reichskanzlers übernehmen sollte.

Nach dem 20. Juli kamen die Familien der Attentäter in Sippenhaft. Die Kinder wurden von den Eltern getrennt. 46 von ihnen wurden ab August 1944 im Kinderheim „Bremen“ im Borntal bei Bad Sachsa am Rand des Südharzes festgehalten, wo ihre Identität zerstört werden sollte. Sie bekamen neue Namen und sollten gemäß der NS-Ideologie erzogen werden. Ob sie ihre Eltern jemals wiedersehen werden, wussten sie nicht. Im Februar 1945 kamen auch Rainer und Carl Goerdeler nach Bad Sachsa, im Alter von knapp vier und anderthalb Jahren. Wenige Tage zuvor wurde ihr Großvater in Berlin-Plötzensee erhängt.

Nichts erinnert heute im Borntal daran, was den Kindern dort angetan wurde. Bad Sachsas Stadtarchivar Ralph Boehm (68) kennt den Ort wie kaum ein anderer. Der ehemalige Hotelier, der im Ort viele Jahre für die SPD als stellvertretender Bürgermeister amtierte, befasst sich seit mehr als zwanzig Jahren mit der Geschichte des Kinderheims.

„Dort war damals der Eingang zum Heim“, sagt Boehm und zeigt auf einen Bauzaun vor einer riesigen Brache, auf der ein niederländischer Investor bereits erste Fundamente für eine Ferienhaussiedlung gelegt hat. Zehn Heimgebäude standen dort ursprünglich, drei säumen noch immer das Gelände. Wie ein Lost Place wirken die 1936 im Harzer Heimatstil errichteten Häuser. Seit 2016 stehen sie unter Denkmalschutz.

Im mittleren Haus will die Stadt eine Gedenkstätte einrichten. Boehm hat sich maßgeblich für den Erinnerungsort eingesetzt. Förderzusagen von Bund und Land in Höhe von rund 1,43 Millionen Euro liegen bereits vor, 830.000 Euro will die Stadt noch bei Unternehmen oder Stiftungen einwerben.

„Wir müssen uns mit der Geschichte auseinandersetzen und Lehren ziehen“, unterstreicht Boehm die Bedeutung der Gedenkstätte. Mit Sorge beobachte er in seinem Umfeld, wie der politische Diskurs verrohe. „Die Menschen können oder wollen einander nicht mehr zuhören. Regeln des menschlichen Anstands scheinen vielen nichts mehr zu gelten.“

Rainer Goerdeler freut sich über die Pläne der Stadt. „Nach dem Krieg wollte in Bad Sachsa lange niemand etwas davon gewusst haben, was 1944 und 1945 in dem Heim geschehen war.“ Er hofft, dass der Gedenkort im Borntal hilft, das geistige Vermächtnis von Carl Friedrich Goerdeler zu bewahren. „Die europäische Idee - dass Deutschland einen angemessenen Platz in der europäischen Völkerfamilie findet - und der Erhalt der Rechtsstaatlichkeit, das waren für meinen Großvater überragende Ziele.“ Der Rechtsruck in Europa gefährde beides, warnt Goerdeler.

Wie nur wenige Kinder hatten Rainer und Carl das Glück, dass ihre Eltern den Krieg überlebten - trotz monatelanger Inhaftierung in Gefängnissen und Konzentrationslagern. Am 28. Juli 1945 holte die Mutter die Jungen in Bad Sachsa ab. Ein Jahr lang hatte sie ihre Söhne nicht mehr gesehen. Rainer Goerdeler erinnert sich: „Mir ist noch sehr in Erinnerung, wie ich meine Mutter auf einem gepflasterten Weg mir entgegenkommen sah, und wie ich vor Freude tanzte, auf sie zu rannte, hinfiel und mir das Knie aufschlug. Das spielte aber in dem Moment keine Rolle.“

Von Urs Mundt (epd)

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