Bereits mehr als zehn Jahre hat Hayao Miyazakis wundersam-schauriges Märchen hinter sich, gealtert (und vor allem schlecht) ist Chihiros Reise ins Zauberland seit der Veröffentlichung 2001 deswegen noch lange nicht. Erstmals ist der Film nun in High-Defintion auf Blu-Ray zu sehen und so darf sich nun auch die neue Generation japanophiler Kinder in die surreale Geschichte der kleinen Chihiro hinein gruseln.
Und die hat es durchaus in sich: Ohne eigene Schuld stolpert Chihiro in ein alptraumhaftes Abenteuer: Ein Umzug in eine neue Stadt ist niemals leicht. Erst recht nicht für ein kleines Mädchen. Chihiro leidet sehr darunter und verbunkert sich daher konsequenter Weise auf der Fahrt zum neuen Haus auf der Rückbank des Autos. Kurz vor der Ankunft im neuen Heim verpasst Chihiros Vater eine Ausfahrt und die Familie landet an einem seltsamen Tor. Von einer fast kindlichen Neugier gepackt, möchten ihre Eltern das Tor erkunden. Chihiro, die eigentlich kein Interesse an dieser unheimlichen Entdeckungsreise hat, aber auch nicht alleine zurückgelassen werden möchte, wagt sich nach kurzem Zögern schließlich mit durch das große Tor.
Als sie die geheimnisvolle Pforte durchschritten haben, offenbart sich ihnen ein heruntergekommener Vergnügungspark auf einer saftig-grünen Wiese. Trotz seines ramponierten Zustands scheint er jedoch nicht unbewohnt zu sein, denn überall duftet es verführerisch nach köstlichen Speisen. Als sie an einen Stand voller exquisiter Delikatessen gelangen, beginnen Chihiros Eltern ohne lange zu überlegen mit einer wahren Fressorgie. Das Mädchen aber, dem die Sache nach wie vor nicht ganz geheuer ist, verweigert die Nahrungsaufnahme — und tut auch gut daran. Denn urplötzlich geht die Sonne unter und schaurige Schattengestalten erscheinen, während ihre Eltern sich vor ihren Augen in dicke Schweine verwandelt haben. Mit dem überraschenden Einbruch der Nacht vergeht auch die Möglichkeit für Chihiro, wieder von diesem unheimlichen Ort zu verschwinden – und damit beginnt ihre Reise durch diese wundersame Welt erst, die noch einige Überraschungen bereithält.
Regisseur und Drehbuchautor Hayao Miyazaki bewies schon Jahre vor seinem Oscar-prämierten Werk Chihiros Reise ins Zauberland, dass er sein Handwerk versteht. Allerdings waren seine frühen Werke (vor allem jene der 1980er Jahre) in den USA und Frankreich oftmals extrem geschnitten und überarbeitet worden, bis der Filmemacher 1984 jeglichen Rechteverkauf ins Ausland unterband. Erst zwölf Jahre später, als ein Deal mit Disney sämtliche Eingriffe kategorisch ausschloss, waren seine Filme wieder im Westen zu sehen – und damit begann die eigentliche zweite Phase seines Weges zum Kultregisseur. Chihiros Reise ins Zauberland war dabei ein wichtiger Meilenstein, er erhielt im Jahre 2002 den Oscar für den besten animierten Spielfilm, gewann den Goldenen Bären bei der Berlinale und avancierte in seiner Heimat zum bislang erfolgreichsten Film der japanischen Filmgeschichte.
Chihiros Reise ins Zauberland wirkt wie ein langgezogener Alptraum. Fast sinnbildlich für die Generationen nach den düsteren Kriegsjahren muss auch Chihiro für die Taten ihrer Eltern büßen. Noch ohnmächtig in der realen Welt und vor einer ungewissen Zukunft in einer fremden Stadt, ist es ausgerechnet dieser unwirkliche Ort, in dem das Mädchen zur aktiven Heldin wird, die mehr als einmal die Badeanstalt, in der sie zur Sklavenarbeit genötigt wird, rettet. In einzelnen Sequenzen mit ausgeprägt episodischem Charakter begegnet sie Hexen, putzt die Rücken dreckiger Götter, besänftigt ein quengelndes und wortwörtlich zunehmendes Riesenbaby, behauptet sich gegen Papierflieger und lernt neue Freunde kennen.
Grausamkeit und Schauriges dominieren die Handlung, doch vielfach zeigen sie sich in betörender Form. Denn trotz all der Monster, bizarren Kreaturen und launischen Götter zeigt sich der Film häufig von einer farbenprächtigen und schönen Seite, durch die bunten Bilder und liebevollen Zeichnungen fühlt man sich, als sei man inmitten einer bewegten „graphic novel“ gelandet. Wenngleich es nur wenige Momente (wenn sich etwa kleine Kohlemännchen über die Essenszeit freuen oder ein bienenkleiner Vogel mühevoll fliegend eine fette Ratte durch die Gegend trägt) gibt, in denen man deutlich spürt, dass es sich tatsächlich um einen Kinderfilm handeln soll.
Eine der Besonderheiten dieser Zauberwelt ist die Tatsache, dass die dort lebenden Kreaturen zwar Gut und Böse kennen, jedoch selbst nicht eindeutig in eine dieser Kategorien eingeteilt werden können. Diese nicht-stereotypen Charaktere verwirren Augen und Ohren (vor allem jene von Zuschauern, die vorwiegend europäisch geprägt sind) zunächst; wer jedoch sowohl mit Animes als auch mit der japanischen Götterwelt vertraut ist, dem fällt der Zugang zum Gezeigten deutlich leichter. Wer einen Anhaltspunkt sucht, um Chihiros Reise ins Zauberland ästhetisch wie erzählerisch zu verorten, der denke vor allem an Lewis Carrolls Alice im Wunderland, einen der alten Tim Burton-Filme und Guillermo del Toros Pans Labyrinth.
Optisch außergewöhnlich und von seinen Figuren her nur schwer einzuordnen, folgt Miyazaki vor allem seinen eigenen obskuren Regeln. So ist Chihiros Reise ins Zauberland eine manchmal nicht ganz logische Reise durch das eigene Kopfkino, die einmal mehr verdeutlicht, wie nahe sich Film und Traum bisweilen einander annähern.
Trotz dieser unbestreitbaren Qualitäten ist die Herunterstufung der Altersfreigabe von 12 Jahren auf 0 Jahren mit Vorsicht zu genießen. Denn auch wenn der Film kindgerecht aufgearbeitet ist, so ist er aufgrund seiner teils drastischen und grausamen Bilder nach wie vor für die allerjüngsten Kinderaugen eher nicht geeignet.
Am 10. Oktober erscheint Chihiros Reise ins Zauberland erstmals auf Blu-Ray im Handel. Mit im Gepäck ist, neben einer ganzen Trailer-Sammlung und einem Interview mit Nina Hagen (die der Hexe Jujuba ihre unverwechselbare Stimme verleiht), gleich der gesamte Film nochmal als Alternativversion mit den originalen Storyboard-Bildern zu sehen. Schon allein das macht aus dieser Neuedition für Fans des Anime-Magiers Miyazaki ein Fest für die Augen.